DEUTSCHER AMATEURTHEATERPREIS 2024 - BDAT (2024)

Dramatischer Verein Biberach: Draußen vor der Tür (Drama von Wolfgang Borchert)

Begründung des Kuratoriums // Stephan Schnell:

Weit, weit weg scheint das Stück vom deutschen Kriegsheimkehrer Beckmann. Wie nähert man sich einem Theaterstück, das so in seiner Zeit, dem Nachkriegsdeutschland des Jahres 1946 verhaftet ist? Die Inszenierung des Dramatischen Vereins Biberach verzichtet auf jede Aktualisierung. Sie ist vielmehr eine zurückhaltende Annäherung. Anstelle einer plakativen Übersetzung dominiert ein fast skizzenhafter Gestus. Die Kostüme sind an der Zeit orientiert ohne historisierend zu sein. Die Bühne ist zumeist leer, unterteilt in mehrere Spielebenen passt sie sich an die historische Stadtbierhalle als Aufführungsort an. Das Spiel ist konzentriert und vertraut auf den Text. Die offene Spielweise und der weitgehende Verzicht auf theatrale Effekte lassen das, was aus der Zeit für heute erzählbar ist, umso klarer hervortreten. Beckmann ist hier ein Mensch von heute. Nach innen gekehrt, aber nicht innerlich. Gebrochen, aber nicht weinerlich, sondern suchend. „Ein Mensch kommt nach Deutschland“. Dieser Satz ist zentrale Motiv des Stückes von 1946 und der Inszenierung von 2023. „Ein Mensch ist da, und der Mensch kommt nach Deutschland, und der Mensch friert. … und die Tür schlägt zu, und er steht wieder draußen.“ Indem die Inszenierung sich eher an der Wiederholung als am Pathos dieser Sätze orientiert, wird deutlich, Beckmann ist kein deutscher Jedermann; er ist ein Mensch von Welt. Krieg, Flucht, Vertreibung und Heimatlosigkeit sind auch hierzulande keine historische Singularität. Wenn Beckmann während der gesamten Aufführung vom Chor der Elbe umgeben bleibt, wenn ihn die flotten, satten und glitzernden Menschen nur tiefer in den Strudel sinken lassen, dann fällt die Assoziation mit den Ertrinkenden im Mittelmeer nicht schwer. Weil es den Zuschauer*innen überlassen bleibt, einen Bezug zur eigenen Gegenwart herzustellen, ist es, als würde zwischen Bühne und Publikum ein Dialogpassage fortsetzen: „Ich bringe sie ihnen zurück.“ – „Wen?“ – „Die Verantwortung.“


Spielbrett Dresden:
Jubiläum – Eine Geisterstunde (Groteske von George Tabori)

Begründung des Kuratoriums // Stephan Schnell:

Wenn das Jubiläum ein Alptraum ist. Zum zweiten Mal nach 1992 konfrontiert Spielbrett sich und das Publikum mit George Taboris Horrorstück aus dem Jahr 1983. 50 Jahre nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten legt Tabori den Finger in die Wunde der keineswegs abgeschlossenen, sondern sehr gegenwärtigen Vergangenheit. Die Motivation des Dresdner Ensembles das „Jubiläum“ erneut auf die Bühne zu bringen, steht im Stücktext; denn „es geht schon wieder los.“ Dem Ensemble gelingt es die erschreckende Anwesenheit der Vergangenheit ohne platte Aktualisierungen greifbar zu machen. Die Nachlebenden auf diesem deutschen Friedhof der Kuscheltiere sind auch keine böswilligen Rachegeister oder Zombies, sondern Menschen, nur nicht oder nicht nur aus Fleisch und Blut. Die Zeiten überlappen sich, gerade weil die Spieler*innen ihre Figuren nicht erklären, rechtfertigen oder anklagen. Stets ist die Lust am Spiel, der Spaß an der Auflösung der fixen Identitäten, die Freude an ironischen Brechungen mit den Mitteln des Theaters sichtbar. Präzise und nicht prätentiös gearbeitete Figuren, das unsentimentale und in konkreten theatralen Vorgängen begründete Spiel machen die Qualität der Inszenierung aus. Es gelingt ihr durch die komplexe Dramaturgie des Stückes die Banalität des Bösen sichtbar zu machen. Mit diesem Jubiläum richtet Spielbrett an sich und uns die drängende Frage des Stückes und unserer Zeit, ob all dies möglich ist, „weil auch in dir ein kleiner Nazi steckt.“

Volksspielbühne Thalia, Hamburg: Oi (Schauspiel von John von Düffel)

Begründung des Kuratoriums // Stephan Schnell:

Eins. Ich bin auf keiner Seite. Zwei. Komm lass uns auf die Straße gehen. Drei. #Niewiederistjetzt! Dieser Dreischritt ist zugleich Botschaft der Inszenierung und Haltung des Ensembles. John von Düffels erstes Stück liefert die Folie, um sich als Amateurtheater durch Theaterspiel klar gegen den gesellschaftlichen Rechtsruck zu positionieren. Das Stück ist gut gewählt. Beiden, Stück und Ensemble, geht es nicht um eine abwägende Gesellschaftsanalyse oder eine Psychologie der Motivationen, sondern um die Dynamik des Abrutschens einer deliberativen Demokratie in eine faschistische Gesellschaft. Die kurzen Szenen sind pointiert geschrieben und rhythmisieren die Dramaturgie. Die Regie nutzt dieses Gerüst als Spielvorlage. Durch kluge szenische Ergänzungen wird aus den Reihen der Hilfesuchenden erst der Chor der Mitläufer, später der Täter. Die Wiederholung von Szenen zeigt Machtverhältnisse auf und verdeutlicht, das Epizentrum des rechte Erdbebens ist die Mitte der Gesellschaft. Mit einfachen Mitteln akzentuiert die Inszenierung die verschiedenen Räume. Transparente Spielvorgänge sind die Qualität des Amateurtheaters. Klare szenische Lösungen lassen Platz für jene Kommentare, die die Haltung des Ensembles ins Spiel bringen. „Ich bin auf keiner Seite.“ Dieser Satz aus dem Stück ist hier keine Option mehr und so verlassen die Spieler*innen ganz brechtisch noch in der Aufführung ihre Rollen und legen die Masken des Faschismus ab. #EinstarkesZeichen.

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Author: Amb. Frankie Simonis

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