„Poor Things“: Der Film geht buchstäblich über Leichen und macht keine Gefangenen - WELT (2024)

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Das ist mal eine Patchwork-Familie, die den Namen verdient, bestehend aus der schönen Bella, Dr. Godwin Baxter plus dem frauenfeindlichen Typen aus dem Schloss, der am Schluss herumgackert wie ein verrücktes Huhn (oder mäht er wie ein schräges Schaf? Man kommt hier schnell durcheinander). Keiner ist mit dem anderen verwandt, dafür sind sich alle aus dem Gesicht geschnitten. Das soll nicht heißen, dass ihre Züge einander ähneln; es wurde bei ihrer zweiten Geburt bloß das gleiche Skalpell benutzt, und zwar vom chirurgisch versierten Pater familias, gespielt von Willem Dafoe.

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Filme, um kurz allgemein zu werden, sind ja ebensolche zarten Monster, wie wir sie in Giorgos Lanthimos’ „Poor Things“ bestaunen dürfen, gebaut aus wilden Träumen und den technischen Hervorbringungen Dutzender Gewerke. Da wird geschliffen und geschraubt, geschrieben und gedrechselt, choreografiert und grimassiert, und am Ende flimmert eine Fata Morgana über die Leinwand, die alles Körperliche abgelegt hat, dafür dem Publikum im besten Fall für immer in die Glieder fährt.

Lanthimos weiß das so gut wie jeder Andere. Das Kino des Griechen ist seit jeher surreal, fantastisch, radikal und dabei zutiefst menschlich. „The Killing of a Sacred Deer“, „The Lobster“, zuletzt „The Favourite“ sind die berühmtesten Pfeile in seinem Köcher, die wie wärmegesteuerte Raketen auf verschlungenen Wegen zielgenau in die Herzen der Zuschauer treffen. Fata Morgana, Pfeile, Lenkraketen – wenn das wie ein metaphorisches Durcheinander aussieht, dann nur, weil es vollkommen zu diesem Film passt, der letztlich genau das ist: eine wild aus den verschiedensten Zutaten zusammenoperierte Metapher. „Poor Things“ geht buchstäblich über Leichen und macht keine Gefangenen.

„Poor Things“: Der Film geht buchstäblich über Leichen und macht keine Gefangenen - WELT (1)

Im Zentrum steht Emma Stone. Sie spielt die Selbstmörderin der Anfangsszene, deren Überreste auf dem Seziertisch eines verrückten Dr. Frankenstein landen, verkörpert von einem jovial-diabolischen Dafoe unter jeder Menge Schminke und Prothesen. Die Tote trägt ein Kind im Bauch, dessen Hirn der Doktor aus anscheinend wissenschaftlichen Gründen der Mutter einsetzt. Dann wird dieses erstaunliche Zwitterwesen, in dem sich die Generationen drängeln wie in einem ins Unendliche schielenden Spiegelkabinett, per Elektroschocks wiederbelebt, so wie einst das Monster in Mary Shelleys Roman. Ein unbeschriebenes Blatt, muss die Kindfrau erst laufen und sprechen lernen. Robbie Ryans Kamera folgt ihren stolpernden, taumelnden Eskapaden erst durch das labyrinthische Townhouse, später durch ein viktorianisches Steampunk-London mit Fischaugenobjektiv und in Schwarz-Weiß.

Der Film war hier noch keine 20 Minuten alt, aber man hatte schon ausgiebig Gelegenheit, sich zu wundern: Was ist denn das für ein Gefährt, halb Pferdekutsche, halb Dampfmaschin’? Und die Fabelwesen der griechischen Mythologie, halb Mensch, halb Gaul, oder halb Löwe, halb Adler, laufen hier in ihrer Nutztierschrumpfform herum, halb Huhn, halb Schwein oder so ähnlich. Überall dampft es, das Pflaster ist feucht, alles glänzt, blubbert, brodelt und geht früher oder später in die Luft.

Dann schaltet Lanthimos auf Farbe um, und zwar so ausgiebig, dass man fürchtet, der Jahresvorrat an Technicolor sei ausgeschöpft, und alle kommenden Filme gingen leer aus. Der Himmel quillt so regenbogenbunt über und über, dass einem beim Hinsehen ganz blümerant wird. Dazu schwankt im Zweifel noch ein Ozeandampfer auf garstigen Wellen, die von einem perfekten Sturm künden, in dessen Auge, wie wir wissen, alles ruht. Bella ist da längst abgehauen, aus den keuschen Umarmungen ihres treuherzigen Verlobten Max McCandless (Ramy Youssef) ins Bett des schmierigen Anwalts Duncan Wedderburn, mit liederlichster Sprezzatura hingeschlenzt von Mark Ruffalo. Er hat sie gekidnappt, was sicher nicht sehr nett war und vor allem nicht uneigennützig. Aber das hegende Gefängnis, das Baxter und McCandless ihrer Kreatur gebaut haben, war auch schon höchstens gut gemeint.

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Bella entdeckt die Welt. Es dauert nicht lang vom ersten „Da-Da“ bis zur kritischen Emerson-Lektüre. Wedderburn gedenkt, den schönen Kindskopf zu verführen, aber Bella ist augenblicklich so vernarrt in das „heftige Hüpfen“ in der Horizontalen, dass der nicht mehr junge Mann bald aus der Puste kommt. Während er noch Atem schöpft, philosophiert sie längst über die soziale Frage. Das Patriarchat wird schon deswegen zur Seite gefegt, weil sein Unterhaltungswert beschränkt ist. Und wie kommt es überhaupt, dass die Reichen hier oben in radikalem Farbreichtum schwelgen, angetan mit Rüschenröcken und gepuderten Perücken, während unten am Fuße der gesellschaftlichen Leiter, entsättigt in Sepia, die Armen schmachten?

Lanthimos gießt das Urbild sozialistischen Unmuts in eine surrealistische Szene, deren Ungerechtigkeit sich einem fast körperlich schmerzhaft aufdrängt. Der systemische Nutznießer Wedderburn kann da nur so verlegen wie verlogen herumstottern. Das aufgeklärte Baby Bella bescheidet ihm, ihre Wege müssten sich nun trennen, sie sehe jetzt klar; die Wahlverwandtschaft war bloß eine flüchtige Illusion. Da vergießt der Macho Tränen: Er ist entnervt und pleite, die Frau hat ihn vernichtet. Und überhaupt ist er doch süchtig nach ihrem Astralkörper. Solche Sentimentalitäten sind der neuen Frau jedoch fremd. Sie blickt voller Leidenschaft, doch ohne Vorurteile auf eine bessere Welt.

Reiseführer durch Europa

Inzwischen haben wir schon einen Trip nach Lissabon hinter uns und sind in Paris angekommen. Neben tausend anderen Sachen – einem Pamphlet gegen unterdrückte Sexualität, einem Manifest für weibliche Emanzipation et cetera – ist „Poor Things“ auch Reiseführer durch ein fantastisches Europa. Bei den Golden Globes war der Film siebenmal nominiert und hat zweimal gewonnen, in den Kategorien „beste Komödie“ und „beste Hauptdarstellerin in einer Komödie“. Er hätte aber genauso gut in Sachen Szenenbild, Kostüme und Cinematografie absahnen können. Das kann bei den Oscars ja noch kommen. Überhaupt ist es wohl für Greta Gerwigs „Barbie“ ein Pech, dass sie mit „Poor Things“ in der gleichen Preissaison antritt, denn Lanthimos hat schlicht die bessere „Barbie“ gedreht – verrückter, wilder, mutiger, vielschichtiger, genauer, einfach ganz und gar und überall großartiger.

„Poor Things“: Der Film geht buchstäblich über Leichen und macht keine Gefangenen - WELT (3)

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Trotzdem ist nicht alles eitel Sonnenschein. Auch hier gibt es das „Barbie“-Problem emotionaler und politischer Erpressung. Die rabiate These, dass die Welt eine bessere wäre, wären nur Frauen an der Macht und die durchweg dämliche und narzisstische Männlichkeit Makulatur, ist hier auch nicht überzeugender. Allerdings bildet sie diesmal nicht Kern und Ziel des Films, sondern dient ihm ihr nur als Gerüst, auf dem er virtuos herumturnt. Man sollte den eifrigen Agitprop-Aspekt nicht zu ernst nehmen; immerhin stehen zwei Männer hinter der vulgär-feministischen Unternehmung, neben Lanthimos sein Skriptwriter Tony McNamara, der auch schon bei „The Favourite“ die Feder führte. Und genauer betrachtet, gibt es sogar einen dritten Mann, denn „Poor Things“ ist eine Verfilmung von Alasdair Grays gleichnamigem Roman aus dem Jahr 1992, also der Hochzeit der Postmoderne. Gray hatte damals beschlossen, „Frankenstein“ à la Pynchon oder Rushdie grellbunt zu übermalen. Mit seinem prä-modernen Vorläufer haben Roman und Film gemein, dass sich das Monster als mit Abstand menschlichste Figur entpuppt, während die in patriarchaler Unsitte versteinerten Männer quasi durch die Bank eine Lobotomie viel nötiger hätten.

Man darf sich aber so locker machen wie Emma Stone und „Poor Things“ weniger für seine Thesen als für seine Schauwerte genießen. In Sachen Detailverliebtheit, Weltentwurf und gigantomaner Geste macht ihm so schnell keiner was vor. Und es handelt sich um echtes Weltkino. Ein Grieche verfilmt das Skript eines Australiers, basierend auf einem englischen Roman, Amerikaner spielen die Hauptrollen, es geht kreuz und quer durch Europa, die Wahlberlinerin Constanza Macras choreografiert die crazy Tänze und sogar Hanna Schygulla hat einen wunderbaren Gastauftritt als selbstironische Witwe. „Poor Things“ ist die filmische Entsprechung der Erkenntnis, dass Armeleuteessen am besten schmeckt.

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