„The Tattoist of Auschwitz“: Das Konzentrationslager-Melodram - WELT (2024)

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Lale Sokolov, der eigentlich Ludwig Eisenberg hieß, überlebte fast drei Jahre in der „Zone of Interest“, dem „Interessengebiet des Konzentrationslagers Auschwitz“, wie die SS das Sperrgebiet um das KZ nannten. In der Welt jenseits jenes Paradiesgärtleins, das Sandra Hüller als Hedwig, die Frau des Lagerkommandanten Rudolf Höß in Jonathan Glazers oscar-gekröntem Film, liebevoll pflegt.

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In einer Welt, deren Höllenhaftigkeit man in „Zone of Interest“ nur hört. „The Tattoist of Auschwitz“ ist Lales Geschichte. Ein globaler Bestseller als dokufiktionalisiertes Buch der australischen Krankenhaussozialarbeiterin Heather Morris. Eine sechsteilige Serie jetzt, ein halbes Dutzend Jahre später auf Sky – inszeniert von Tali Shalom-Ezer, deren Familie zu großen Teilen von den Deutschen in den Lagern ermordet wurde.

Da sieht man alles, was man in „Zone of Interest“ nicht sieht. Die Debatte über die Art und Weise, wie man den Holocaust in einer Zeit filmisch erzählbar macht, in der die letzten Zeitzeugen sterben, oder gerade eben nicht, bringt „The Tattoist of Auschwitz“ auf eine neue Ebene.

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Aber von vorne. Lale Sokolov, seine Frau Gita ist gerade gestorben, erzählt Heather Morris in Melbourne – schönes Appartement, blauer Himmel, Meerblick, das alte, antisemitische Europa ist weit weg – die Geschichte einer unmöglichen Liebe. Heather wollte immer schreiben, einen Kurs in Memoir und Biografie hat sie absolviert, die Freundin einer Freundin hat sie auf Lales Geschichte gebracht, veröffentlicht hat sie noch nie etwas.

So war es wirklich. So sieht man es in der Sky-Serie. Heather (Melanie Lynskey) besucht Lale (Harvey Keitel) als eine Art Volkskörper, als Vertreterin von uns allen, die wir keine Opfer des Holocaust in unserer Verwandtschaft haben, sondern höchstens Täter. Sie hört zu. Sie weint mit. Sie tröstet Lale. Sie – die in ihrem Buch nie auftaucht – wird zu Lales Therapeutin.

Gespenster auf dem Sofa

„The Tattoist of Auschwitz“ springt ständig zwischen Melbourne und der Hölle hin und her. Lales neues Leben und sein Trauma spiegeln sich. Lales Leidensgenossen, seine Peiniger, Stefan Baretzki (Jonas Nay) zum Beispiel, der SS-Rottenführer, der ihm das Leben zur Hölle machte und seltsamerweise auch rettete, sitzen auf Lales Sofa.

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Die Wohnung ist voll von den Gespenstern von Auschwitz. Sie reden auf Lale ein. Die Vergangenheit ist in ihm noch lange nicht vergangen.

Was ein ziemlich guter dramaturgische Kniff ist. Weil es Lales Geschichte – vor der als historische Quelle des Holocaust wegen offensichtlicher historische Fehlerhaftigkeit nach ihrem Erscheinen geradezu gewarnt wurde – in einen neuen erzählerischen Zusammenhang stellt, sie neu problematisiert und wenigstens halbwegs vorm Versinken in der unangemessenen Schnulzenhaftigkeit rettet.

„The Tattoist of Auschwitz“ ist – anders als das Romandebüt der Heather Morris – eine Holocaust- und eine Liebesgeschichte, eine Geschichte vom Erinnern und der Wahrhaftigkeit des Erinnerns, eine von Traumata, die man nicht mehr los wird, von Geschäften mit den Teufeln, von denen man im KZ vielleicht doch mehr abschließen musste als sonstwo auf der Welt, eine Geschichte von Schuld und Scham.

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Lale, dessen Erzählung in Bratislava beginnt, wo er – mit dem gelben Stern auf dem Anzug – in den nächtlichen Straßen seine Freundin vor den Nazis schützt. Fliehen soll er, sagt ihm sein Nazi-Klassenkamerad noch am Bahnsteig, bevor Lale, der an seines Bruders statt ins Arbeitslager geht, in den Zug nach Auschwitz steigt – in die kinematografische Zone, in der man Jahrzehnte nach Steven Spielbergs inzwischen heftig umstrittenem „Schindlers Liste“ eigentlich nur den Klischeetod erleiden kann.

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Lale wird Tätowierer, sitzt an einem Tischchen, sticht die Nummern in die Unterarme der Neuankömmlinge. Er hat Privilegien, er wird zum Paria. Er entschuldigt sich bei jedem. Er wird ein guter Geist von Auschwitz. Eines Tages sitzt ihm Gita gegenüber.

Ihre Augen – seine blau, ihre braun – treffen sich. Und die Hände. Sie erkennen einander. Ein Moment für die Ewigkeit. Ein Moment, in dem man einmal denkt, man sei woanders. Nicht in jener Hölle, in der Arbeit angeblich frei macht und Liebe unmöglich und tödlich ist.

John-Williams-Haftigkeit

Man hat Steven Spielbergs „Schindlers Liste“ den Vorwurf gemacht, das Grauen des Holocaust an den Mainstream von Hollywood angepasst und das millionenfache Morden kommensurabel gemacht zu haben. Den Vorwurf kann man – mit noch mehr Berechtigung – auch dem „Tattoist of Auschwitz“ machen.

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Schon nach der ersten Folge ist man allem begegnet, was einem in Holocaust-Filmen immer begegnet – die Schornsteine rauchen schwarz, Waggons voller ausgemergelter Leichen fahren vorbei, pervertierte Menschen in Uniform schießen im Nebenbei Gefangenen in den Hinterkopf, Hans Zimmer, der unbedingt den Soundtrack schreiben wollte, lässt in bester John-Williams-Haftigkeit eine Geige melancholisch singen.

Man wird nicht fertig mit dieser Serie. Sie macht alles richtig. Man müsste sie in jeder Oberstufe zeigen. Und trotzdem hat man da dieses Unbehagen, dass hier eine Urkatastrophe an die Gefühligkeit verhökert wurde.

„The Tattoist of Auschwitz“: Das Konzentrationslager-Melodram - WELT (2024)
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